„History Takes Place: Europäische Gedächtnisorte“. Sommerakademie in Lviv/Lemberg

„History Takes Place: Europäische Gedächtnisorte“. Sommerakademie in Lviv/Lemberg

Veranstalter
ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius
Veranstaltungsort
Ort
Lviv (Ukraine)
Land
Ukraine
Vom - Bis
20.07.2007 - 29.07.2007
Deadline
31.01.2007
Von
Dr. des. Cornelius Gröschel

„Die geschichtliche Erinnerung Europas haftet in besonderer Weise Orten an: Geschichte findet statt, history takes place. Wenn es einen Genius Europas gibt, dann manifestiert er sich nicht zuletzt in seinen Städten. Er hat jeweils unverwechselbare Gesichter geformt. Europa kreist in gewisser Weise um seine Metropolen, die Punkte maximaler Verdichtung all dessen sind, was Zivilisationen und ihre Geschichte ausmacht. Um sie kreist das Leben, die Phantasie, die Erinnerung. Europa ist auch eine Landschaft des Gedächtnisses.“ (Karl Schlögel)

In einer Folge von Studienkursen ermöglicht die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius jungen Wissenschaftlern, europäischen Gedächtnisorten nachzugehen. Ziel ist, das „Spektrum der Mitte und des Ostens Europas“ (H. v. Keyserlingk) anhand seiner Metropolen als Erinnerungs- und Geschichtstopoi vor Augen zu führen. Die Sommerakademie zielt auf eine Internationalisierung und Vernetzung der historisch orientierten Geistes- und Kulturwissenschaften. Zur Bewerbung eingeladen sind junge Historiker sowie historisch arbeitende Kunsthistoriker, Literaturwissenschaftler, Ethnologen und Soziologen; die Zielgruppe sind fortgeschrittene Studierende ebenso wie Doktoranden und Postdoktoranden.

Nachdem „History Takes Place“ 2003 die historische Topographie St. Petersburgs und 2005 die von Breslau durchmessen hat, heißt 2007 das Ziel Lemberg. Lemberg konserviert in seiner baulichen Gestalt exemplarisch die ostmitteleuropäische Großsstadttopographie des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese lässt sich hier so unmittelbar und anschaulich studieren wie an kaum einem anderen Ort.

Dies bedeutet nicht, dass Lemberg von den gerade diese Region beispiellos verheerenden Ereignissen des kurzen 20. Jahrhunderts verschont geblieben ist. Das überkommene Mosaik der Multiethnizität und Multikonfessionalität hat ein gröberes Raster bekommen. Lembergs Bewohner mussten sich in den vergangenen 100 Jahren mehrfach in neue Staatsgefüge einordnen; öfter noch rollte in beiden Weltkriegen die Front über die Stadt hinweg, wechselten die Besatzungsregime. 50 Jahre lang zur Sowjetunion gehörig, steht Lemberg auch exemplarisch für die sozialistisch überformte Bürgerstadt Ostmitteleuropas.

Doch der Mythos der „Stadt der Löwen“ speist sich weniger aus Lembergs Beispielhaftigkeit als vielmehr aus seiner Besonderheit: Lemberg war in der Doppelmonarchie blühende Hauptstadt eines habsburgischen Kronlandes, die gleichwohl in der polnischen Zwischenkriegszeit und noch mehr als sowjetische westliche Peripherie zur Provinz wurde. Das gegenwärtige, ukrainische Lemberg schickt sich neuerlich an, kulturelle Metropole einer sich als besondere Einheit begreifenden Westukraine zu sein.

Dass die baulichen Spuren der Vergangenheit Lemberg als typische mitteleuropäische Großstadt wie auch als Metropole ganz eigener Art bis in unsere Tage prägen, macht aus ihm einen Gedächtnisort par excellence

Es ist Ziel der von Dr. Christoph Mick (University of Warwick, England) geleiteten zehntägigen Sommerakademie, sich Lembergs dramatische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert zu vergegenwärtigen und ihren Spuren in der örtlichen Topographie, in der Architektur und in Denkmälern nachzugehen – die Stadt selbst ist Quelle. Die Leitfragen des interdisziplinär angelegten Kurses skizziert das beiliegende Exposé. Wie der Umgang mit historischen Räumen und topographischem Quellenmaterial für eine moderne Geschichtswissenschaft fruchtbar gemacht werden kann, soll von den Teilnehmern eingeübt werden. Für alle Themen werden Spezialisten und Zeitzeugen zu Vorträgen und Exkursionen durch die Stadt hinzugezogen

Teilnahmebedingungen und Bewerbungsmodalitäten

Die Auswahl des Teilnehmerkreises erfolgt nach Eigenbewerbung sowie durch Empfehlung einschlägig ausgewiesener Wissenschaftler.

Voraussetzung für eine Bewerbung sind Kenntnisse der modernen Geschichte Polens, des habsburgischen Galizien und der Westukraine, Interesse am historischen Phänomen Stadt sowie Interesse am Themenfeld im Rahmen einer eigenen Qualifizierungsarbeit. Die Teilnehmer müssen nicht notwendigerweise über Lemberg arbeiten, sondern vor allem thematisches und methodisches Interesse an neuen Zugangsweisen und ungewohnten Quellen mitbringen. Veranstaltungssprachen sind Ukrainisch, Deutsch und Englisch. Lektürefähigkeit in zwei Sprachen ist Voraussetzung für die Bewerbung, Kenntnisse in allen drei Sprachen von Vorteil. Die eingehende Vorbereitung anhand von Kursmaterialien, Lektüreempfehlungen sowie die Übernahme eines Referats und einer Führung wird erwartet. Hierbei werden die jeweiligen Interessen und Kompetenzen Berücksichtigung finden.

Die ZEIT-Stiftung trägt die Reise- und Unterbringungskosten und leistet eine je nach Einkommenssituation bemessene Pauschale für die vor Ort entstehenden Kosten. Die Veröffentlichung der Ergebnisse der Akademie ist beabsichtigt.

Geeignete Bewerber werden gebeten, ihre Bewerbungsunterlagen (Lebenslauf, Zeugniskopien, Themenvorschlag) nebst der schriftlichen Empfehlung eines Fachwissenschaftlers bis zum 31. Januar 2007 an die ZEIT-Stiftung zu senden. Informationen sind auch über die Homepage der Stiftung (www.zeit-stiftung.de) verfügbar.

Leitfragen

Lemberg hat viele Namen und doch ist es stets der gleiche. L’viv (ukrainisch), Lwów (polnisch), L’vov (russisch), Leopolis (griechisch) – alle Namen verweisen auf den Sohn des Stadtgründers Danylo, den ruthenischen Fürsten Lev – der Löwe. Lemberg ist deshalb auch die Stadt der Löwen, überall in der Stadt findet der Besucher Abbilder von Löwen: sitzende und stehende, gehende und liegende, ja sogar ein geflügelter Markus-Löwe grüßt vom Marktplatz.
Seit der Gründung Mitte des 13. Jahrhunderts hat Lemberg ein multiethnisches Gepräge. Ruthenen/Ukrainer und Armenier, Deutsche und Griechen, Russen und Italiener, Juden und Polen und viele andere lebten hier. Alle haben ihre Spuren hinterlassen, deren Kombination Lemberg ihr unverwechselbares Aussehen gibt. Ab 1340 gehörte die Stadt mit einer kurzen – ungarischen – Unterbrechung für mehr als vierhundert Jahre zur polnischen Krone. 1772 fiel sie in der ersten Teilung Polens ans Habsburger Reich und wurde Hauptstadt des Kronlandes Galizien und Lodomerien. Nach den Reichsreformen der 1860er Jahre erlebte die Stadt einen ungeahnten Aufschwung, sie wurde zur „Hauptstadt der Provinz“ (Karl Schlögel), zu einem geistigen und politischen Zentrum im Osten Europas. 1914 war die Stadt zu einer Metropole mit über 200 000 Einwohnern aufgestiegen. Polen stellten die Hälfte der Bewohner, Juden gut ein Viertel, Ukrainer etwa ein Sechstel. Sie war ukrainisches wie polnisches Piemont und ein Zentrum jüdischen Lebens in Ostmitteleuropa.
In beiden Weltkriegen wurde die Stadt zum Kriegsschauplatz. Zwischen 1914 und 1944 wechselte sie siebenmal ihren Besitzer, dreimal wurde sie vergeblich belagert. Weder Polen noch Ukrainer konnten sich einen polnischen respektive ukrainischen Staat ohne Lwów, ohne L’viv vorstellen. Im polnisch-ukrainischen Krieg 1918/19 setzte sich Polen durch und die Region wurde als östliches Kleinpolen (Małopolska Wschodnia) Teil der Zweiten Polnischen Republik. Im Zweiten Weltkrieg besetzten zuerst sowjetische, dann deutsche Truppen die Stadt. Der Krieg zerstörte die Gebäude nicht, aber er veränderte das Aussehen der Stadt grundlegend. Lemberg verlor sein multiethnisches Gesicht. Die Lemberger Juden wurden Opfer des Holocaust, die Sowjetmacht zwang nach ihrer Rückkehr die polnische Bevölkerung, die Stadt zu verlassen. Auch die Lemberger Ukrainer erlitten Schlimmes. Viele Tausende wurden deportiert oder ermordet. Wie Polen, Ukrainer und Juden miteinander umgingen, wie sie in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zusammenlebten und wie danach die Menschen mit oft mörderischen Folgen nach nationaler, rassischer oder Klassenzugehörigkeit eingeteilt wurden, ist ein Schwerpunkt der Sommerakademie „History Takes Place“.
Nationalukrainische Partisanen leisteten jahrelang erbitterten Widerstand gegen die Sowjetisierung. Gleichzeitig füllten Bauern aus der Umgebung, aus Polen ausgesiedelte Ukrainer und Sowjetbürger aus allen Teilen des Reiches die Stadt. Nur ein Bruchteil der Bevölkerung von 1950 hatte bereits 1939 in Lemberg gelebt.
Die Stadt passte sich den neuen Bewohnern an, aber die Stadt veränderte auch die Bewohner. Lemberg ist in der Sowjetzeit und vor allem nach der Unabhängigkeit der Ukraine anders, ukrainischer geworden. Es ist anders geworden, aber ohne dass das Alte gänzlich verschwunden wäre. Ein Spaziergang über den Friedhof in Lyčakiv zeigt anschaulich, wie sehr Geschichte und Gegenwart miteinander verflochten sind. Polnische, ukrainische, armenische und sowjetische Gräber und Gedenkstätten liegen eng beieinander. Hier befindet sich auch der wichtigste polnische Soldatenfriedhof des polnisch-ukrainischen Krieges 1918/19. Die Auseinandersetzungen über seine Restaurierung belegen, wie Konflikte der Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirken, sie zeigen aber auch, dass sie das Heute nicht bestimmen müssen. Lemberg ist die gemeinsame Schöpfung der Menschen, die im Laufe der Jahrhunderte in dieser „Stadt der verwischten Grenzen“ (Joseph Roth) lebten. Die Sommerakademie „History Takes Place“ möchte die historischen Schichten freilegen, nach ruthenisch-ukrainischen, polnischen, jüdischen, armenischen, habsburgischen, aber auch deutschen und russischen Spuren und Erinnerungsorten suchen.

Annäherungen an die frühe Stadtgeschichte

Lemberg hat eine wechselhafte und umstrittene Geschichte. Losgelöst von der Frage danach, „wem die Stadt gehört“, soll ihrer Geschichte seit der Gründung nachgegangen werden. Die ruthenische Zeit soll ebenso beleuchtet werden wie die Jahrhunderte lange Zugehörigkeit zur polnischen Krone. Unter polnischer Herrschaft bildeten sich Strukturen und Herrschaftsverhältnisse heraus, die nach der Teilung Polens und der Inkorporierung in das Habsburger Reich weiter wirkten. Welche geographischen Faktoren beeinflussten die Entwicklung der Stadt? Wie wirkten sich Herrschaftswechsel aus? Welche ökonomische Rolle spielte Lemberg als regionales Zentrum und für den Fernhandel? Wer lebte in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt? Was bedeutete die Stadt für die Geschichte Polen-Litauens? Wie war die jüdische Gemeinde organisiert und wie war das Verhältnis zur christlichen Bevölkerung? Welche Positionen hatten die Armenier inne? Wie wirkten sich die Kirchenunion von Brest und die Kosakenkriege aus?

Nationalisierung und die Entstehung der modernen Stadt: Die k. u. k. Zeit

Habsburg-Nostalgie allerorten. Polen, Juden und Ukrainer erinnerten sich oft mit Wehmut an diese Zeit, bevor gegenseitige Gewalt das Zusammenleben vergiftete und der Zweite Weltkrieg es beendete. Die Reformen des Habsburger Reiches in den 1860er und 1870er Jahren stärkten die lokale und regionale Selbstverwaltung. Lemberg entwickelte sich zu einer modernen europäischen Stadt. Straßenbeleuchtung wurde eingeführt und moderne Abwasserkanäle gebaut. Lemberg gehörte zu den ersten europäischen Städten, die über eine elektrische Straßenbahn verfügten. Die Universität war eine der besten Hochschulen Osteuropas, das Polytechnikum bildete Architekten und Ingenieure aus. In den Lemberger Theatern konnten die Einwohner 1910 Aufführungen in polnischer, jiddischer, ukrainischer und manchmal auch deutscher Sprache lauschen, im Opernhaus konsumierten die besser Situierten die europäische Musikkultur. Gleichzeitig fanden die ukrainische und polnische Nationalbewegung und der Zionismus immer mehr Anhänger. Bildungsgesellschaften und Druckereien wirkten entlang galizischer, aber auch dezidiert polnischer, ukrainischer und jüdischer Linien. Die Lemberger Kultur war europäisch, habsburgisch, galizisch und national – ukrainisch, polnisch, jüdisch. Waren die letzten Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg wirklich so idyllisch? Wie sah das Alltagsleben in der Stadt aus? Wer waren die Träger der Modernisierung? Was waren die Ziele der Stadtplaner? Welche Folgen hatte die Modernisierung? Welche Rolle spielten die kulturellen Institutionen im Nationalisierungsprozess? Wie groß waren die Chancen für eine friedliche Lösung der ethnischen Konflikte? Welches waren vor 1914 die wichtigsten ukrainischen, polnischen und jüdischen Erinnerungsorte?

Eine Stadt im Krieg: 1914 bis 1920

Im Ersten Weltkrieg war die Stadt zunächst Schauplatz patriotischer Begeisterung, die sich mit polnischen und ukrainischen Hoffnungen auf nationale Autonomie oder gar einen eigenen Nationalstaat verband. Doch bald wurde die Stadt von russischen Truppen besetzt und eine fast einjährige Besatzungszeit begann. Nach Rückkehr der Österreicher übernahm das k. u. k. Militär die Kontrolle. Im November 1918 wurde Lemberg schließlich Schauplatz von Kämpfen zwischen Einheiten der neu ausgerufenen Westukrainischen Republik und polnischen Freiwilligen, welche für die Eingliederung von Stadt und Region in einen polnischen Staat kämpften. Nach Abzug der ukrainischen Einheiten fand ein blutiger Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung statt. Welche Auswirkungen hatten der Erste Weltkrieg und der polnisch-ukrainische Krieg auf das Leben in der Stadt? Wie veränderte er das Verhältnis zwischen Ukrainern, Polen und Juden? Welche Politik verfolgten die russischen Besatzer?

Von der Hauptstadt der Provinz zur Provinzstand in Polen: Die Zwischenkriegszeit

Von der Hauptstadt eines habsburgischen Kronlandes wurde Lemberg zum einfachen Wojewodschaftszentrum. Mit diesem Bedeutungsverlust hatten vor allem die polnischen Einwohner zu kämpfen. Auch ökonomisch war die Zeit hart, in den 1930er Jahren wurde die Lage der Arbeitslosen verzweifelt. In der Zwischenkriegszeit verschärften sich die ethnischen Gegensätze. Die polnische Minderheitenpolitik war repressiv, das Klima in der Stadt wurde rauher. Latenter Antisemitismus schlug um in offene Diskriminierung und Gewalt, ukrainische Nationalisten verübten Anschläge auf polnische Politiker und Symbole der polnischen Herrschaft. Auf der anderen Seite gab es ein friedliches alltägliches Zusammenleben. Das kulturelle Leben öffnete sich modernen Tendenzen. Jazz kam in die Stadt, ein Radiosender wurde gegründet, das dort auftretende Komikerpaar Kazimierz Wajda und Henryk Vogelfanger (Szczepcio und Toncio) war landesweit bekannt. Wie war die städtische Selbstverwaltung organisiert? Welche Konsequenzen hatte der Bedeutungsverlust für die Stadtentwicklung? Wie entwickelte sich die Stadt in der Zwischenkriegszeit ökonomisch? Wie sah die politische Landschaft, wie die kulturelle Szene aus? Welchen Stellenwert hatten Radio und Film? Wo und wie begegneten sich Polen, Ukrainer und Juden? Welche Auswirkungen hatten die Kriegserfahrungen auf die Memorialkultur?

Die Stadt im Zweiten Weltkrieg

Der Zweite Weltkrieg brachte das Ende des multiethnischen Lemberg. Die Stadt wurde zuerst von sowjetischen Truppen besetzt und zusammen mit den anderen ostpolnischen Gebieten nach einer inszenierten Volksabstimmung der Sowjetunion eingegliedert. Die Sowjetisierung begann, begleitet von Massendeportationen, Terror und Morden. Gleichzeitig nahmen die ethnischen Konflikte zu, die nach dem deutschen Einmarsch in einen furchtbaren Pogrom an der jüdischen Bevölkerung mündeten. Die deutschen Besatzer ermordeten fast alle Juden und hierarchisierten die Bevölkerung nach rassistischen Kriterien. Der polnisch-ukrainische Gegensatz wurde mit terroristischen Mitteln ausgetragen und kostete Zehntausende Polen und Ukrainer das Leben. Welche Ziele verfolgten die deutschen und sowjetischen Okkupanten? Wie nahm die einheimische Bevölkerung die Besatzungspolitik wahr? Welche Auswirkungen hatten Krieg und Besetzung auf das Verhältnis zwischen Polen, Ukrainern und Juden? Wie sah das Alltagsleben aus? Wie waren das Ghetto und das Lager Janów strukturiert? Welche Optionen hatte die Bevölkerung?

Das sowjetische Lemberg

Die Rückkehr der Roten Armee befreite die Stadt einerseits von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, brachte aber andererseits neue Unterdrückung. Nationalukrainische Partisanen leisteten noch jahrelang Widerstand gegen die gewaltsame Eingliederung der Westukraine in die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik und damit in die Sowjetunion. In einem groß angelegten Bevölkerungsaustausch mit Polen wurden die Lemberger Polen gezwungen, die Stadt zu verlassen. Stadt und Region wurden sowjetisiert, die ukrainische Bevölkerung zur Anpassung an die neuen Verhältnisse gezwungen. In den fünfziger und sechziger Jahren wurde Lemberg industrialisiert. Von gut 300 000 im Jahre 1939 wuchs die Bevölkerung auf eine knappe Million Ende der achtziger Jahre. Neue Viertel mit Wohnsilos nach sowjetischem Muster schossen aus dem Boden. In den Außenbezirken sieht Lemberg heute so aus wie Minsk oder Almaty. Auch das Alltagsleben wurde sowjetisiert. Man kaufte auf sowjetische Art ein, Filialen sowjetischer Verbände und Massenorganisationen wurden eingerichtet. Wie wurde die Sowjetmacht durchgesetzt und legitimiert? Woher kamen die neuen Einwohner? Wie veränderten sie die Stadt, wie veränderte die Stadt sie? Welche Strategie verfolgten die sowjetischen Machthaber mit ihrer Stadtplanung? Wie sah der neue Alltag aus? Wie entwickelte sich das kulturelle Leben nach 1945? Wie verhielten sich Ukrainisierung und Sowjetisierung zueinander? Wie wurden Holocaust und Zweiter Weltkrieg erinnert? Wie stark prägte die Eingliederung in die Sowjetunion die Stadt und ihre Bewohner? Welche Denkmäler wurden errichtet, welche Feste gefeiert?

Das ukrainische Lemberg

1991 wurde die Ukraine unabhängig und eine Umcodierung des städtischen Raums begann. Sowjetische Denkmäler wurden gestürzt, Straßen umbenannt und ukrainische Denkmäler errichtet. Desowjetisierung und Ukrainisierung lösten aber nicht die drängenden Probleme der Stadt. Ineffektive Staatsunternehmen, Umweltverschmutzung, die schnell zunehmende Arbeitslosigkeit und das Auseinanderklaffen der Gesellschaft in Profiteure und Verlierer der Transformation gehören zur Erblast der Sowjetunion. Gleichzeitig erlebte das kulturelle Leben – befreit von den Fesseln der Sowjetzeit – einen enormen Aufschwung. Der Tourismus wird mehr und mehr zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor. Welche intellektuellen Debatten haben die Stadt in den letzten 15 Jahren geprägt? Welche Folgen hatte der Untergang der Sowjetunion für die wirtschaftliche Lage? Wie viel Sowjetisches ist geblieben? Wie ist das Verhältnis zwischen Ukrainern, Russen, der polnischen Minderheit und der kleinen jüdischen Gemeinde? Welche Folgen hatte die Orangene Revolution? Wie ist das Verhältnis zu Kiew? Wie äußert sich das westukrainische Sonderbewusstsein? Wie sieht das kulturelle Leben heute aus? Welche Rolle spielt der Tourismus?

Lemberg in der Literatur – Literatur in Lemberg

Galizien war das Armenhaus der Habsburger Monarchie. In der ökonomischen Rückständigkeit gedieh aber die Literatur. Bedeutende Schriftsteller kamen aus Galizien oder bereisten die Region. Sie bereicherten die deutsche, polnische, jiddische und ukrainische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie schilderten ihre Eindrücke aus der Provinz, in der die Zeit stehen geblieben zu sein schien und von der schillernden Stadt. In Lemberg finden sich Spuren von Sholem Alejchem und Joseph Roth, Karl Emil Franzos und Józef Wittlin, Stanislaw Lem und Soma Morgenstern, Stanislaw Wasilewski und Ivan Franko, Lesja Ukrainka, Czeslaw Miłosz und Zbigniew Herbert und vielen anderen. Heute ist Lemberg ein Zentrum der ukrainischen Literatur. Der wohl bekannteste ukrainische Schriftsteller der Gegenwart, Jurij Andruchowytsch hat an der Ivan-Franko-Universität studiert. Wer das Flair der Stadt verstehen möchte, tut gut daran, die Spuren Lembergs in der Literatur zu verfolgen. Gibt es eine spezifisch galizische Literatur? Welche Künstlermilieus gab und gibt es in Lemberg? Welche Rolle spielte Lemberg in Leben und Werk der Schriftsteller und in den jeweiligen Nationalliteraturen?

Religionen und Kirchen

Lemberg war die einzige Stadt neben Rom, in dem drei katholische Erzbischöfe residierten: ein römisch-, ein armenisch- und ein griechisch-katholischer. Lemberg war Sitz einer der größten jüdischen Gemeinden Osteuropas. Daneben gab es russisch-orthodoxe und evangelische Kirchen. Die Kirchen waren eng mit den Nationsbildungsprozessen verbunden. Ohne die griechisch-katholische Kirche hätte die ukrainische Nationalbewegung in Galizien ihre Dynamik nie gewinnen können. Von den polnischen Königen über die österreichischen Kaiser und die russischen Zaren bis hin zu den sowjetischen Machthabern spielte die Kirchenpolitik eine zentrale Rolle für die Machtsicherung, Machtausweitung und Kontrolle nationaler Bewegungen. Und auch heute ist die Frage nach der Konfession politisch geblieben. Die aktuelle Lage der diversen ukrainisch-orthodoxen, der russisch-orthodoxen Kirche, der römisch-katholischen Kirche und der unierten griechisch-katholischen Kirche soll diskutiert werden. Welche Rolle spielten Konfessionen und Religionen im Nationalisierungsprozess? Welche Binnenstruktur hatten die jüdischen und die christlichen Gemeinden?

Lemberg als Erinnerungsort

„Es war einmal in Lemberg …“ Unter diesen Titel lassen sich zahlreiche Memoiren ehemaliger Lemberger Polen fassen. Die ganze Stadt ist in mehrfacher Hinsicht ein einziger Erinnerungsort. Er ist ein Erinnerungsort für viele Menschen, die in Lemberg gelebt oder die Stadt besucht haben. In unzähligen Memoiren spielt die Stadt eine wichtige Rolle. Lembergs Stellenwert in nationalen Narrativen kann kaum überschätzt werden. Die Stadt nimmt einen wesentlichen Platz in der polnischen, ukrainischen und jüdischen Geschichte ein. Welchen Stellenwert hat Lemberg in der polnischen, ukrainischen und jüdischen Geschichtsschreibung? Wer erinnert sich wie an Lemberg?

Erinnerungsorte und traumatische Orte: Treffpunkte und Schauplätze

Lemberg ist ein Erinnerungsort aus eigenem Recht, ist aber auch durchsetzt mit Erinnerungsorten: Das Mickiewicz-Denkmal war seit seiner Einweihung 1904 der Ort, an dem Kundgebungen stattfanden und Demonstrationen ihren Ausgang nahmen. An der Marienstatue beteten während des Zweiten Weltkriegs Polen wie Ukrainer. Wo die Synagoge der Goldenen Rose stand, ist heute eine Leerstelle. Denkmäler aus der Sowjetzeit wurden gestürzt wie das Lenindenkmal oder haben einen Bedeutungsverlust erfahren wie das Denkmal der Roten Armee. Neue ukrainische Denkmäler wurden errichtet. Auch Orte der Begegnung wie Cafés und Orte der Kultur wie Oper, Theater und Dichterhäuser sind Erinnerungsorte. Zu den Lemberger Erinnerungsorten gehören aber auch die Schauplätze furchtbarer Verbrechen, Schlüsselorte der sowjetischen und deutschen Besatzung – Gefängnisse, das ehemalige Ghetto, das Lager in Janów und die Schauplätze des Holocaust evozieren Erinnerung. Welche jüdischen, polnischen und ukrainischen Erinnerungsorte gibt es in der Stadt? Gibt es gemeinsame, übergreifende Erinnerungsorte? Welche Orte der Begegnung gab und gibt es? Wie wird heute mit solchen Erinnerungsorten umgegangen?

Dr. Christoph Mick
RCUK Academic Fellow at the Department of History
University of Warwick

Programm

Kontakt

Dr. des. Cornelius Gröschel

ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius
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